07.03.2024 / Verein
Die Wandergerda
Während sich die ersten Frühjahrsblüher des Jahres tatendurstig ihren Weg Richtung Sonnenlicht erkämpfen, während Stare und Amseln lautstark ihre Rückkunft von der zurückliegenden Reise kundtun, während die Natur sich zaghaft und dennoch mit Nachdruck aus der winterlichen Umklammerung befreit, da versammelt sich an einem Sonntagvormittag Ende Februar um 10 Uhr die Wanderabteilung des SV 98 auf dem Parkplatz des Charlottenhofs zu einer Wanderung. Angeführt seit nun 22 Jahren von einer Frau, der statt rotem gut und gerne auch blau-weißes Blut in den Adern fließen könnte: Gerda Krüger.
Die 84-Jährige begrüßt die 14 Teilnehmenden der heutigen Tour herzlich. Aufrechte Haltung, wacher Blick hinter einer Brille, die Jacke mit der Lilie auf der Brust – einzig die dichten schlohweißen Haare zeugen von dem höheren Alter der „Wandergerda“, wie sie sich selbst nennt. Die Wanderabteilung der Lilien feiert mit der heutigen Tour ihren 38. Geburtstag. Als einziges Mitglied von damals ist Krüger immer noch dabei. „Die Liebe zum Wandern ist einfach da. Ich bin ein Outdoor-Mensch und unheimlich gerne in der Natur. Ich habe auch einen Schrebergarten, aber ich muss da nichts ernten. Ich bin einfach gern im Garten“, betont die gelernte Personalkauffrau oder „Frau Personal“, wie sie in ihrem damaligen Ingenieur-Büro auch genannt wurde, und erläutert im Folgenden ihre Leidenschaft fürs Wandern: „Man kann reden, man kann die Natur genießen, bei jedem Wetter und man hat was fürs Auge.“
Nach der Begrüßung entspinnt sich unter den Anwesenden direkt ein reger Austausch über den Auswärtspunkt bei Werder Bremen und die strittige Situation am Ende der Partie. Doch dem Fachsimpeln setzt Krüger nach kurzer Zeit energisch ein Ende: „Schwätzen kann man auch unterwegs.“ Sie will ihre Zeitkalkulationen möglichst genau einhalten. Bewaffnet mit einer Landkarte setzt sie sich an die Spitze des Zuges, der sich nun einen Weg in Richtung der sonntäglich verschlafenen Wälder bahnt.
Über unsere Rubrik „Lilien-Körpe“
In dieser Rubrik stellen wir Euch interessante „Lilien-Köpfe“ vor. Menschen, die vielleicht nicht im großen Rampenlicht stehen. Menschen, die aber dennoch so zahlreiche und vielfältige Geschichten über sich und unseren Sportverein erzählen können. Gerda Krüger ist einer dieser „Lilien-Köpfe“. Sie wurde 1939 in Ober-Ramstadt geboren. Die gelernte Personalkauffrau arbeitete in einem Ingenieur-Büro. 1966 zog sie nach Darmstadt-Eberstadt und neun Jahre später wurde sie Mitglied bei den Lilien. Seit 1999 wohnt die mittlerweile 84-Jährige im Darmstädter Paulusviertel. Die Leitung der Wanderabteilung hat die verwitwete Krüger seit 2002 inne.
Krüger lebt den Verein
Die 1939 in Ober-Ramstadt geborene Krüger ist mit 20 Jahren zum Fußball gekommen. Damals schaute sie verschiedene Spiele in der Region, ehe sie ihren Mann kennenlernte, zwei Kinder bekam und aufs Land zog. Der Fußball rückte erstmal in den Hintergrund. Mit dem Umzug nach Eberstadt und dem Muttertag 1973 sollte sich das allerdings schlagartig ändern. Daran erinnert sie sich noch, als wäre es gestern gewesen. „Ich war am Erlensee mit meinen Kindern zum Baden. Wir kommen zurück, da haben wir noch im Hochhaus gewohnt, da waren auf dem Parkplatz überall blau-weiße Fahnen. Und dann haben die Jungs mir vom 7:0 gegen Nürnberg erzählt.“ Die Leidenschaft für den SV 98 war geboren und sollte nie wieder verschwinden. Beim 5:0-Triumph gegen Röchling Völklingen in der Aufstiegsrunde folgte dann auch ihre erste Partie als Lilien-Fan. Seither hat sie kaum ein Heimspiel verpasst.
Seit 1973 ist Gerda Krüger dem Verein eng verbunden. Da sollte es übrigens noch 17 Jahre dauern, bis Kapitän Fabian Holland überhaupt geboren wurde. Zwei Jahre später wurde Krüger dann auch Mitglied bei den Lilien. An die Anfänge ihrer Vereinslaufbahn, als es finanziell nicht ganz so rosig aussah, erinnert sich die mittlerweile 84-Jährige noch gut: „Ich war die erste, die Fanartikel verkauft hat. Wir haben nur Kleinkram verkauft. Ich habe alles zu Hause gehabt und das immer mit ins Stadion geschleppt. Da war eine offene Hütte und in der Pause mussten wir immer alles einpacken.“ Die geprüfte Wanderführerin erzählt mit leuchtenden Augen von der damaligen Zeit und legt einen tüchtigen Schritt vor. Die Gruppe ist im Wald angelangt. Es duftet nach Erde und Laub, aber auch eine frische Frühlingsnote liegt in der Luft. Die Sonne ist allerdings noch zu zaghaft, um sich gegen dichte Wolkenschichten durchzusetzen.
Über die Jahre wuchs Krüger immer weiter mit dem Verein zusammen. So ist sie nicht nur die Leiterin der Wanderabteilung und die stellvertretende Vorsitzende der Sportabteilungen, sondern auch Mitglied des Ältestenrats. „Einer musste aus gesundheitlichen Gründen zurücktreten und da habe ich gesagt, da müsste mal eine Frau rein. Mein Mann hat noch zu mir gesagt: Jetzt nimmst du aber kein Amt mehr an!“, erinnert sich Krüger. Doch die Bitte ihres Mannes ging ins Leere. Bei der nächsten Sitzung wurde sie gewählt und hat seither drei Ämter beim SV 98 inne. Als Urgestein ist es ihr immer wichtig zu betonen: „Wir sind kein Fußballverein, wir sind ein Sportverein.“ Für diesen setzt sie sich ein: Jahr für Jahr, Tag und Nacht und scheut keine Mühen und keinen Aufwand. Nicole Heipel, Mitglied der Abteilung und begeisterte Wanderin, unterstreicht das: „Gerda ist immer mit Herzblut und Leidenschaft dabei und ein Vorbild für die Jüngeren. Sie hat einen wachen Geist und lebt für die Wanderabteilung“.
Gerdas Baum
Der Weg wird matschig im Messeler Wald. Immer wieder muss die Wanderabteilung große Pfützen umgehen. Doch das schreckt niemanden ab. Laubbäume säumen den zertretenen Weg – noch kahl, aber schon mit sprießenden grünen Knospen. Das Ziel der heutigen Tour ist „Gerdas Baum“. Mit strahlenden Augen berichtet sie, wie am 12. März des vergangenen Jahres ihr eigener Baum gepflanzt wurde. Anfangs wusste sie noch gar nicht, was passieren wird. „Ich wusste nur, es wird eine Überraschungswanderung geben, aber alle außer mir haben gewusst, was dahintersteckt“, erinnert sie sich und lacht: „Und dann kam der jetzige Oberbürgermeister Hanno Benz und da habe ich gesagt: Ist das die Überraschung? Und dann kam der Wolfgang Arnold: Ach, ist das die Überraschung?“ Erst als dann ein Auto mit einem Anhänger vorfuhr, bekam Krüger eine Vorstellung davon, was passieren würde. „Ich habe Gänsehaut gekriegt. Ich liebe Bäume. Ich habe ein ganzes Album, wo ich besondere Bäume fotografiere und dann abhefte. Und mir einen Baum zu schenken, das fand ich einfach spitze. Ich war hin und futsch und wieder zurück. Es war ein ganz toller Tag!“ Auch ein Jahr nach der Aktion ist sie immer noch ganz ergriffen und emotional in Erinnerung an die besondere Geste der Abteilung und des Vereins.
Die aktuell im Darmstädter Paulusviertel wohnende Krüger ist eine energische Frau. An den Kreuzungen wird angehalten und sie lotet die nächste Richtung aus – gegebenenfalls mit lauter Stimme. Sie ist es gewohnt, anzuführen und nicht nur beim Wandern voranzugehen. Ihren Mann hat sie durch eine Krankheit verloren, aber die Familie wächst nach – so hat Krüger bereits eine vierjährige Urenkelin. Die 84-jährige Witwe strotzt und sprüht nur so vor Vitalität und Lebensgeist. Zwölf Jahre lang ist sie bei einem jährlichen Marathon mitgelaufen. Und wie als wäre es das Normalste der Welt, erzählt sie, dass sie am Samstag nach dem Darmstadt-Spiel vor der Abendpartie eine Runde joggen gewesen ist.
Die Wandergruppe hat ihr Ziel erreicht. In einer langen Reihe am Wegesrand stehen mit Schutzfolie ummantelte Baumsetzlinge. Vor jedem jungen Rindenträger steht eingerammt in den Wiesensaum ein Holzpflock mit Namensplakette. Unter dem Namen Gerda Krüger prangt natürlich ein Lilien-Aufkleber. So groß, dass die Seiten hinter den Kanten des Pflocks verschwinden. Stolz präsentiert sie ihre kleine Esskastanie. Nach einer kurzen Rast gibt es unter der Anleitung von Krüger einige Fingerübungen für ein besseres Gefühl und Körper-Bewusstsein. Auch in der Pause geht der treue Lilien-Fan umher, kümmert sich, sucht Gespräche mit den Mitwandernden und hat alles im Blick.
Ein Leben für die Lilien und die Natur
Laut einer Umfrage aus dem FuFa-Newsletter ist die Wanderabteilung nach Basketball die beliebteste Abteilung beim SV 98, was auch Krüger freut. Sie steckt viel Herzblut in ihre Vereinsaufgaben und arbeitet auch außerhalb der Wanderungen mit großem Einsatz. So organisiert sie jedes Jahr im Frühherbst eine Wanderfreizeit. Dieses Jahr soll es in die Rhön gehen. Zudem kundschaftet sie in Vortouren die jeweilige Gegend mit ihren besonderen Orten (Bauwerke, Brunnen, Naturgegebenheiten) aus und prüft die Eignung der Route. Gewandert wird immer dann, wenn keine Heimspiele im Match-Kalender des SVD stehen. Wohin es geht? Das entscheidet die Wandergerda mithilfe von Karten, Büchern und Ratgebern, aber immer auch mit einem mittlerweile gigantischen Erfahrungsschatz und einem guten Bauchgefühl. Dazu zieht Krüger einen Vergleich mit ihrem verstorbenen Ehemann heran: „Mein Mann hat gut gekocht. Und der hat gesagt, wenn ich ein Rezept lese, dann weiß ich, wie es schmeckt. Wenn ich eine Wanderbeschreibung lese, dann kann ich mir ungefähr vorstellen, wie sie wird.“
Nach der Rast begibt sich die Gruppe auf den Rückweg. Die Sonnenstrahlen haben sich nach tapferem Kampf ein paar Flecken freien Himmel ergattern können, den sie nun nutzen, um ihre hellen Finger gen Boden zu richten. An einer zu überquerenden Bundesstraße kommt die Wandergesellschaft zum Halten. Gerda Krüger fällt aber nicht nur das asphaltierte Geläuf auf, sondern auch achtlos in den Straßengraben geworfener Müll. Ein Graus für die Naturliebhaberin: „Sowas ist ganz furchtbar. Wenn ich alleine unterwegs bin, dann habe ich immer einen Müllsack dabei, um die Natur sauber zu halten.“
Neben der Natur ist das Miteinander, das Sozialgefühl der Gruppe ein elementarer Bestandteil der Abteilung. Das war direkt bei der herzlichen Begrüßung untereinander bemerkbar und äußert sich auch jetzt. Immer wieder bilden sich unterschiedliche Gruppen und Konstellationen und es wird sich über die verschiedensten Themen ausgetauscht. „Und wenn du mit jemanden nicht mehr reden willst, bleibst du einfach stehen und sagst, ich muss mir mal die Schuhe binden, ohne jemanden zu beleidigen“, merkt Krüger mit einem Augenzwinkern und feinen Lachfältchen um die Augen an. Sie bevorzugt die direkte und offene Kommunikation und einen ehrlichen Umgang untereinander. Mit ihrer Über- und Umsicht nach dem Motto „Die Gruppe ist so stark wie das schwächste Glied“ und ihrer guten Menschenkenntnis ist sie die Möglichmacherin dieses sozialen Miteinanders.
Doch es gibt auch Bindungen innerhalb der Wanderabteilung, die über das Freundschaftliche hinausgehen. Zwei Beziehungen sind bereits in der Gruppe entstanden. Eine Beteiligte ist Karin Knye. Seit bald 20 Jahren ist sie dabei und schätzt Krüger sehr: „Gerda ist eine erstaunliche, bewundernswerte und besondere Frau“. Sie gibt ihrer Leiterin in der Folge noch gute Wünsche der gesamten Abteilung mit: „Wir hoffen alle, dass sie das noch ganz lange machen kann.“ Der vitale Eindruck Krügers, Wanderstöcke hat sie im Vergleich zu einigen anderen der Gruppe keine, gibt dem Wunsch durchaus fruchtbaren Boden, auch wenn die 84-Jährige nach einem Hörsturz schwerhörig geworden ist.
Überraschend fängt es in der Mittagszeit an zu regnen. Was in spärlichen Kreismustern auf den Pfützen begann, ist schnell ein echter Regenguss geworden. Doch für die Wanderabteilung gibt es kein schlechtes Wetter, nur falsche Kleidung. Im Handumdrehen ist der Wald mit bunten Farbklecksen von Regencapes, Schirmen und Regenhüllen durchzogen. Der Niederschlag ist jedoch nicht von langer Dauer und bald schon hat es aufgehört. Der letzte Abschnitt der heutigen Tour bricht an. Gerda Krüger ist der zurückliegende Marsch nicht anzusehen. Ähnlich frisch wie der Waldbestand nach dem Regenschauer ist sie unterwegs, nun allerdings in der Mitte der Wanderkarawane.
Das tollste Erlebnis im Verein war für sie das sich nun bald zum zehnten Mal jährende Wunder von Bielefeld und die damit verbundene Rückkehr in die 2. Bundesliga. „Das Hinspiel habe ich natürlich im Stadion gesehen, aber nach Bielefeld bin ich nicht mit, weil ich gedacht habe, es ist aussichtslos, wenn wir 1:3 zuhause verloren haben“, berichtet Krüger. Unterdessen ist die Wandergesellschaft wieder am Ausgangspunkt angelangt. Es ist zwanzig vor zwei. Für 14 Uhr ist der Tisch zum Essen reserviert. Die Zeitkalkulation hat gestimmt. Krüger ist zufrieden. Bei einem ordentlichen Mittagstisch stärkt sich die Gruppe nun von der Wanderung und lässt das Treffen ausklingen.
Einen potenziellen Nachfolger für die Wanderabteilung hat Krüger übrigens noch nicht gefunden. Der Fortbestand der Abteilung ist dementsprechend auf lange Sicht betrachtet unklar. Eines jedoch ist sicher: Die Wandergerda ist unterwegs, bei jedem Wetter und zu jeder Jahreszeit. „Ich wandere so lange ich kann. Wenn ich nicht mehr laufen kann, bin ich entweder krank oder tot“, erzählt die seit über 50 Jahren treue Darmstadt-Anhängerin und Naturliebhaberin. Mittlerweile sind schon über 900 Wanderungen zusammengekommen und viele Menschen wurden und werden durch Gerda Krüger bewegt – und das nicht nur beim Wandern, sondern auch wenn es um ein Vorbild, eine anpackende Kraft oder einen klugen Rat geht.